ARCHIV August 2011


eule






Monster



„Papa, wann sind wir endlich da? Mir ist so schlecht!“ Maike hing leichenblass in ihrem Sicherheitsgurt, folgte schwankend dem Auf und Ab des Familienautos auf dem unbefestigten Weg hinter den Dünen hoch im Norden Dänemarks. Die Sonne stand schon tief am Himmel. Hin und wieder, wenn sie die Kuppe einer Düne erreichten, konnten sie ihren Strahlenkranz am Horizont erkennen. Tiefer und tiefer neigte sie sich dem Wasser zu, roter und roter glühte sie zu den vier Urlaubern auf dem Weg zu ihrem Tagesziel herüber.


Maike vertrug das Autofahren ohnehin nicht sonderlich, die Achterbahn durch die Sand- und Heidelandschaft hatte ihr aber den Rest gegeben. Sie brauchte dringend wieder festen Halt unter ihren Füßen. Ihr Bruder Frederik teilte ihr Unwohlsein zwar nicht, aber auch er war nach der stundenlangen Autofahrt ziemlich fertig. „Gleich seht ihr unser Ferienhaus, nach der nächsten Biegung kommt es in Sicht“, beruhigte sie ihr Vater. Und richtig, in eine Mulde geduckt tauchte vor ihnen das Ganzdachhaus auf, das in den nächsten zwei Wochen ihr Zuhause sein sollte. „Endlich“, war alles, was Maike noch herausbrachte.


Als das Auto zum Stillstand gekommen war, holte auch ihr Vater tief Luft. „Geschafft, jetzt brauchen wir nur noch alles ausladen und ins Haus bringen, dann vielleicht noch ein kleiner Gang am Strand entlang, das sollte dann für heute reichen. Also, packen wir's. Maike, Frederik, euer Zimmer ist oben unter dem Spitzgiebel. Tragt eure Sachen bitte hoch, ich helfe Mama den Rest ins Haus bringen.“ Maike streckte sich erst einmal und atmete tief durch, nachdem sie aus dem Auto gestiegen war, schon kam wieder etwas Farbe in ihr Gesicht zurück. Aber vielleicht waren es auch nur die Strahlen der untergehenden Sonne, die sie wieder etwas gesünder aussehen ließ.


Der Schlüssel lag – wie mit der Hausverwaltung verabredet – unter dem Hortensientopf neben der Eingangstür. Unten war es durch die großen Fenster noch recht hell, aber als Maike die steile Stiege nach oben hochkletterte, wurde es immer düsterer. Sie fand auch keinen Lichtschalter und stapfte erst einmal ins Dunkle hinein. Ein schrilles Gekreische ließ sie zusammenfahren. Mutig wollte sie weitergehen, aber wieder tönte ihr ein markerschütternder Schrei entgegen. Maike fuhr zusammen, wieder war alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen. Vorsichtig tastete sie sich rückwärts die Stiege hinab. „Da gehe ich im Leben nicht noch einmal hoch“, konnte sie ihrem Bruder noch zuflüstern, bevor sie sich am Fuße der Treppe hinsetzen musste, „da oben ist ein Monster!“


Frederik lachte, fasste sich ein Herz und kletterte zügig hoch. Auch ihm schallte der schreckliche Laut entgegen, er wollte sich aber gegenüber seiner Schwester keine Blöße geben. Als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, fand er den Lichtschalter. Vor ihm bewegte sich ein Zinkeimer zuckend von einer zur anderen Seite über die Holzdielen, begleitet von fauchenden, kratzenden und schrillen Geräuschen. Behutsam näherte Frederik sich diesem unheimlichen Spuk. In der Ecke des Zimmers sah er einen Besen an der Wand lehnen. Diesen ergriff er jetzt und stieß damit gegen den Eimer. Ruhe. Nichts bewegte sich für einen Augenblick, kein Laut entwich dem Behältnis.


Dann holte Frederik tief Luft und drückte mit dem Besenstiel gegen die obere Kante des Eimers. Der hob sich einen Spalt vom Boden ab, zwei glühende Augen starrten ihm entgegen. Vor Schreck ließ er den Besen los, der Eimer kippte wieder zurück. Dann schwante ihm, was er da gerade gesehen hatte, er stieß mit aller Kraft gegen den Eimer. Der fiel scheppernd um und gab den Blick auf ein kleines verängstigtes Kätzchen frei. Erleichtert musste Frederik jetzt lachen, das „Monster“ war gestellt. Er rief Maike zu sich hoch, die zwar noch immer widerstrebend aber letztlich neugierig geworden dem Ruf ihres Bruders folgte. Als sie das Kätzchen sah, musste auch sie über ihre vorherige Ängstlichkeit lachen, nahm das Tier auf ihren Arm und streichelte es. Das konnten ja doch noch schöne Ferien werden.


Monster (Kurzversion)


Ihr war mittlerweile alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. Maike vertrug das Autofahren nicht besonders gut, das Auf und Ab auf dem unbefestigten Weg durch die Dünenlandschaft hier im Norden Dänemarks war aber besonders schlimm. Immer wieder fragte sie ihren Vater, wann sie endlich ihr Ferienhaus erreichen würden. Die Sonne ging schon unter, spiegelte sich glutrot in den Wellen der Nordsee. Diese Schönheiten konnte Maike wahrlich nicht genießen, ihr war einfach nur übel.


Endlich tauchte in einer Mulde das Ferienhaus auf. Heide umgab das Ganzdachhaus, das in den kommenden zwei Wochen ihr Zuhause sein sollte. Alle waren froh, als die stundenlange Autofahrt endlich zu Ende war. Ihr Bruder Frederik hatte zwar keine Magenprobleme, aber müde und zerschlagen fühlte auch er sich. Wie kaputt musste dann erst ihr Vater sein, der endlich den Wagen abstellen und sich die Füße vertreten konnte.


Dann ging es ans Entladen ihres Autos, Maike und Frederik hatten ihre Siebensachen in das Obergeschoss hochzutragen. Während unten die letzten Sonnenstrahlen noch etwas Helligkeit durch die großen Scheiben des Wohnzimmers brachten, reichte die kleine Dachluke nicht, um das Schlafzimmer der beiden Kinder ausreichend zu erleuchten. Maike wollte sich nur noch hinlegen, stieg forsch die steile Stiege nach oben hoch, suchte im Dämmerlicht einen Lichtschalter, fand ihn aber nicht.


Wo war das Bett? Doch dieser Gedanke wurde jäh unterbrochen, als ihr ein markerschütternder Schrei entgegenschallte. Maike fuhr zusammen, wagte nicht weiter voranzugehen. Wieder brachten sie seltsame Geräusche aus der Fassung. Entsetzt ließ sie ihre Reisetasche fallen und hastete zur Stiege zurück. Als sie wieder unten angekommen war, musste sie sich erst einmal hinsetzen und gegen das Geländer lehnen. Da oben hin würde sie keiner mehr bewegen können. Ein Monster hätte sich in ihrem Zimmer versteckt, erklärte sie Frederik. Der schüttelte nur mitleidig seinen Kopf, wollte seiner Schwester kein Wort glauben.


Mutig stieg er die Stufen nach oben hoch, blieb stehen und versuchte, sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Er fand den Lichtschalter zu seiner Rechten. Noch während er ihn drückte, erscholl ein schrilles Geräusch gefolgt von einem seltsamen Schnarren und Kratzen. Frederik blickte ins Zimmer, mitten im Raum stand ein Zinkeimer, der seltsam ruckartig über die Dielen rutschte. Ein Fußtritt gegen die Kante des Eimers und das Rätsel des Monsters war gelöst. Ein vollkommen verängstigtes Kätzchen schoss unter dem Eimer hervor und sprang in das untere der beiden Etagenbetten. Frederik musste lachen, seine Anspannung verflog. Er rief Maike hoch, die immer noch nur widerstrebend die Stiege hochkletterte. Als sie aber das Kätzchen auf dem Bett sah, war jegliche Angst verflogen. Vorsichtig näherte sie sich dem armen Tier, streichelte es und nahm es schließlich auf ihren Arm. Mit diesem Mitbewohner konnten die Ferien bestimmt noch sehr schön werden.



Gewitter


Drohend baute sich der Amboss am Himmel auf. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ein Gewitter losbrach. Noch war nur ein dunkles Grummeln in der Ferne zu hören, aber dieses klang von Minute zu Minute unheimlicher. „Wir packen lieber unsere Siebensachen ein, bevor es zu spät ist“, forderte Birte ihre Freundinnen mit einem Blick auf die Picknickreste auf. „Ach, du Angsthase, was soll schon passieren, die Wolken ziehen bestimmt an uns vorbei“, wandte Doro ein. Aber Martina und Lea fingen schon an, den Picknickkorb mit dem schmutzigen Geschirr, dem übrig gebliebenen Kartoffelsalat und dem angeknabberten Baguette zu füllen.


Sie hatten kaum die Satteltaschen ihrer Räder gepackt, als sich die Sonne verdunkelte und die ersten dicken Tropfen auf sie einprasselten. „Los, beeilt euch,“ bat Birte die kleine Gruppe ,“wir müssen aus dem Wald heraus, bevor es richtig knallt. Ich kenne am Waldrand eine alte Hütte, mehr ein Viehunterstand, den sollten wir schnellstens erreichen.“ Blitze zuckten plötzlich, der Donner folgte in unangenehm kurzen Abständen, das Unwetter hatte sie erreicht. Die Mädchen jagten den Waldweg entlang, tief gebückt über die Lenker ihrer Räder, sie wollten dem Regen möglichst wenig Angriffsfläche bieten. Immer wieder warfen sie einen Blick zurück an den mittlerweile fast schwarzen Himmel. Das sah nicht gut aus.


Aua, das tat weh!“ Lea war von ersten Hagelkörnern getroffen worden. Das Blätterdach über ihnen hatte lange den schweren Regentropfen standgehalten, doch nun wurde es ungemütlich. Ein Blitz zuckte in unmittelbarer Nähe zu Boden, ein ohrenbetäubender Donner ließ sie alle erzittern. Vor Schreck verriss Martina ihren Lenker, kam vom schmalen Waldweg ab und rutschte mit ihrem Rad ins Unterholz. Wie in Zeitlupe kippte sie zur Seite und landete in einem Brombeerbusch. Sie war viel zu erschrocken, als dass sie die Dornen wahrnahm, die ihre Haut aufritzten.


Birte wendete ihr Rad und half Martina wieder auf die Beine. „Kommt, schnell, es ist nicht mehr weit.“ Klitschnass hasteten sie weiter, bis sich endlich der Wald lichtete und eine große Koppel vor ihnen lag. „Dort, seht ihr, das ist der Unterstand.“ Birte trieb ihre Freundinnen an, auch noch diese letzten Meter durch den jetzt ungehindert auf sie herabschlagenden Hagelschauer zurückzulegen. Sie warfen ihre Räder vor der Hütte auf den Boden und sprangen unter das schützende Dach. „Ich habe Angst“, wimmerte Lea, als ein weiterer Donnerschlag die Erde zum Beben brachte. „Wir sind in Sicherheit, Lea, alles wird gut“, versuchte Birte zu beruhigen. Die Mädchen hatten sich auf den Boden gekauert und starrten in das Unwetter hinaus. Immer größer wurden die Hagelkörner, schnellten vom Boden wieder in die Höhe, bedeckten die Weide mit einer weißen Decke.


Das wahnsinnige Trommeln über ihren Köpfen ließ sie erschaudern. Wie lange mussten sie das noch aushalten? Lea hielt sich die Ohren zu, Martina schluchzte in die vor ihr Gesicht gehaltenen Hände, selbst Doro sackte immer weiter in sich zusammen, all ihre Selbstsicherheit war gewichen. Birte versuchte ihr Handy aus ihrer nassen Jacke zu fummeln, fürchtete, die Feuchtigkeit hätte es unbrauchbar gemacht. Aber es funktionierte noch. Mit klammen, zittrigen Fingern tippte sie die Telefonnummer der Eltern ein.


Ein berstendes Geräusch erschreckte sie alle bis ins Mark. Über ihnen tat sich der Himmel auf. Tennisball große Hagelkörner hatten das dünne Dach über ihnen durchstoßen, trafen sie mit voller Wucht. Die Mädchen schrien vor Angst und Schmerz, sprangen auf und suchten den Schutz der Wand, in deren Nähe die Hagelkörner nur vereinzelt zuschlugen. Wann würde dieser Wahnsinn endlich aufhören?



Gewitter (Kurzversion)


Birte beschlich ein ungutes Gefühl, als sie durch das Blätterwerk der kleinen Lichtung zum Himmel schaute. Das Sonnenlicht war milchiger geworden, das Wetter schien umzuschlagen. Seit einiger Zeit hatten sie auf diesem schönen Fleckchen Erde ihr Picknick gehalten, sich ins Gras gelegt, gesonnt und herumgealbert. Ihre Fahrradtour war hier an ihrem Wendepunkt angelangt. Birte horchte auf, in der Ferne vernahm sie ein Donnergrollen. Es war Zeit zurückzufahren. Sie forderte Doro, Lea und Martina auf, alle Sachen zusammenzupacken und in den Satteltaschen der Räder zu verstauen.


Ein plötzlicher Windstoß zeigte den Mädchen, dass sie schleunigst die Heimfahrt antreten sollten. Der Himmel verdunkelte sich zusehends, letzte Sonnenstrahlen fielen auf das Strauchwerk links und rechts des Waldweges, den sie jetzt entlangeilten. Dann begann es zu regnen. Erst so leicht, dass die Mädchen es beinahe nicht bemerkt hätten. Das Laubdach fing diese Tropfen noch auf. Ein leises Rascheln über ihnen ließ sie aber wissen, dass der Sonnentag endgültig vorbei war.


Eine weitere heftige Bö drückte die Zweige der Bäume und Büsche am Wegesrand tief zu Boden. Dann prasselten wie aus dem Nichts dicke Tropfen auf die vier Radlerinnen herab, dazu zuckte ein Blitz in unmittelbarer Nähe, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donner. Erschrocken verriss Martina ihren Lenker, geriet aus der engen Spur des Waldweges und stürzte geradewegs in einen Brombeerbusch. Ihr Aufschrei ließ Birte in die Bremsen treten. Sie blickte zurück, sah, was Martina passiert war und eilte ihr zur Hilfe. Kaum waren sie alle wieder auf ihren Rädern, als sich die Wassertropfen in Hagelkörner verwandelten. Die Mädchen jagten angstvoll weiter, tief geduckt über ihre Lenker, um so wenig wie möglich von den harten Eisstückchen ins Gesicht zu bekommen.


Der Wald öffnete sich, vor ihnen lag eine große Weide am Hang, mitten darauf ein Viehunterstand. Birte hielt auf diesen Bretterverschlag zu, trieb die Freundinnen an, dieses Ziel trotz des immer stärker werdenden Hagelsturms zu erreichen. Mit letzter Kraft kämpften sie sich den Hang hoch, warfen die Räder einfach ins Gras und sprangen in den Schutz des Unterstandes.


Doch es dauerte nur wenige Minuten, bis der Hagelschlag sich in einen wahren Beschuss verwandelte. Aus kleinen Körnern waren Tischtennisball große Geschosse geworden. Die Mädchen pressten sich an die Rückwand ihres hölzernen Schutzes. Sie zitterten wie Espenlaub, vor Kälte und Angst. Klitschnass klebte die Kleidung an ihren Körpern. Dann geschah das Unfassbare, riesige Hagelkörner durchschlugen das Dach des Unterstandes. Ein Loch tat sich über ihnen auf. Verzweifelt schrien die Mädchen auf und klammerten sich aneinander. Wann hatte das endlich ein Ende?

 


Tut mir leid, die hier zunächst veröffentlichten Texte sind jetzt nur noch im Persen-Verlag erhältlich:

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