ARCHIV Februar 2011

Courage
"Und daher gebührt dir, liebe Zülal, unser aller Respekt und Dank. Du bist eine wahre Schülerin des Monats, ein Vorbild für uns alle." Verlegen blickte Zülal die Schulleiterin an, dann wanderte ihr Blick in den Zuschauerraum, suchte Halt an einem bekannten Gesicht, aber die Scheinwerfer der Aulabühne blendeten sie so stark, dass sie in dem Dunkel zu ihren Füßen niemanden erkennen konnte. Sie nahm die Urkunde entgegen, oben prangte das neue Logo 'Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage'. Frau Brandes schüttelte ihr die Hand. Beifall brandete auf, hier und da pfiffen Schüler als Zeichen der Anerkennung, riefen ihren Namen. Zülal verließ eilig die Bühne, fand sich endlich in der Sicherheit ihres Sitzplatzes wieder.
„Lasst mich in Ruhe, ich habe euch nichts getan. Nein!“ Die nächsten Worte des Fünftklässlers verstand Zülal nicht mehr, sie gingen in ein Wimmern über. Drei größere Jungen hatten ihn zu Boden geschupst, standen über ihn gebeugt und lachten lauthals. Dann trat der erste zu, traf das Opfer mit der Fußspitze in die Seite. Der krümmte sich unter Schmerzen zusammen. Der nächste Tritt traf ihn am Oberschenkel, er versuchte auszuweichen, sich auf die Seite zu drehen. Vergeblich.
„Ihr gemeinen Feiglinge, lasst den Kleinen in Ruhe!“ War das ihre Stimme? Zülal erschrak über sich selbst, warum begab sie sich in solch eine Gefahr? „Verschwindet, ihr könnt euch wohl nur an Schwächeren vergreifen. Es reicht!“ Verdutzt schauten die drei Schläger sie an, hielten für einen Moment in ihrem Treiben inne, grinsten Zülal eher dümmlich an, bevor sie ihre Untat fortsetzen wollten. Mittlerweile stand eine ganze Gruppe von Kindern um die Szene herum. Keiner griff ein, nur Zülal ließ sich jetzt nicht mehr beirren. Sie stellte sich zwischen die drei Rabauken und das Opfer am Boden, streckte ihre Arme energisch den Angreifern entgegen. „Weg, weg mit euch!“ Ein beifälliges Murmeln ging durch die Reihen der Zuschauer. Verunsichert wanderten die Blicke der drei Jungen von Zülal über den Fünftklässler am Boden, der seine Hände schützend vor sein Gesicht hielt, zu den Umherstehenden. „Warte Bürschchen, wir kriegen dich noch,“ drohten sie ihrem Opfer, ließen aber endlich von ihm ab und verzogen sich missmutig in einen hinteren Teil des Schulhofes.
Zülal half dem Kleinen auf die Beine. Er wankte noch merklich, drückte beide Hände in die verletzte Seite. Tränen standen ihm in den Augen. Er stütze sich nur kurz bei Zülal ab, nach einem knappen, kaum hörbaren „Danke“ humpelte er ohne ihre Hilfe zu einer Bank unter dem Abdach. Ein paar Klassenkameraden, die sich bis dahin wohlweislich zurückgehalten hatten, gesellten sich zu ihm. Ein Tempotaschentuch wanderte in seine Hand, er wischte sich durch die Augen und über das Gesicht. Das Schellen beendete die Pause.
Zülal griff gerade nach ihrer Jacke, als ihre Mutter sie ansprach: „Papa und ich haben gestern auf eurer Schulhomepage gesurft und sind auf den Artikel über dich gestoßen.“ Zülal erstarrte, klammerte sich am Kleiderhaken fest, wagte nicht den Blick von der Jacke zu nehmen. Jetzt musste das längst befürchtete Donnerwetter kommen. „Ein schönes Foto,“ fuhr ihre Mutter fort, „aber warum hast du uns denn gar nichts davon erzählt?“ Zülal entspannte sich etwas, das klang nicht böse. Sie fühlte die Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter. „Wir sind stolz auf dich, das hättest du uns doch erzählen können.“ Zülal wandte sich ihrer Mutter zu, wusste nicht, was sie sagen sollte, ein Stein war ihr vom Herzen gefallen. Sie lächelte, freute sich, als ihre Mutter das Lächeln erwiderte. „Aber bitte, Liebes, tu uns einen Gefallen, sei in Zukunft vorsichtig.“ Zülal nickte leicht, griff nach ihrer Schultasche, gab ihrer Mutter einen Abschiedskuss und verließ erleichtert die Wohnung.
Courage (Kurzversion)
Erst jetzt wurde Zülal klar, in welche Gefahr sie sich begeben hatte. Ein
Tut mir leid, die hier zunächst veröffentlichten Texte sind jetzt nur noch im Persen-Verlag erhältlich:

Suchbild
Anna stand gedankenverloren am Fenster des Musikraumes. Wassertropfen rannen das schmutzige Glas hinab, grau hingen die Wolken über der Stadt. Es war Regenpause, alle anderen Kinder hatten den Raum schon verlassen. Anna zögerte noch ihnen zu folgen. Es wartete ohnehin niemand auf sie, vielleicht würde sich ja Jennifer zu ihr gesellen. Dann konnten sie auf der Bank im Foyer sitzen und gemeinsam ihre Pausenbrote verzehren. Sie wollte sich gerade abwenden, als eine Bewegung in der hinteren Schulhofecke ihre Aufmerksamkeit weckte.
Ein kleiner Junge trottete langsam vom Fahrradpark in Richtung Schuleingang. Auf Höhe der Buschreihe wurde er urplötzlich von zwei Gestalten angesprungen. Ein Sack flog über seinen Kopf, dann traten und schlugen die viel größeren Jungen auch schon auf ihn ein. Anna meinte einen Schrei bis zu ihrem Fenster hinauf zu hören, sie mochte sich das aber auch nur eingebildet haben. Der Kleine krümmte sich unter den Schlägen der Übeltäter, fiel zu Boden, steckte noch ein paar Tritte ein, bis die Jungen endlich von ihm abließen und davonrannten.
Wie versteinert starrte Anna auf diese Szene, unfähig das Gesehene zu begreifen. „Anna, kommst bitte auch du jetzt, ich möchte den Musikraum abschließen!“ Anna reagierte nicht. Herr Marder musste sie schon am Arm nehmen und sie vom Fenster wegziehen. Er wunderte sich über das widerstrebende Verhalten seiner ohnehin so ruhigen Schülerin.
Der zusammengeschlagene Junge war das Gespräch des Tages an der Schule. Niemand hatte die Täter gesehen, am wenigsten er selbst. Gestützt von Mitschülern wurde er ins Haus getragen. Es folgten Befragungen und Vermutungen, aber die Tätersuche blieb nicht nur an diesem Tag erfolglos. Anna war die einzige Zeugin des Vorfalls gewesen, aber das wusste niemand, und Anna konnte sich nicht mitteilen.
Zwei Tage später entdeckte Frau Kuhnt eine Zeichnung auf Annas Tisch, als sie nach Schulschluss ihren Klassenraum aufräumen wollte. Sie stutzte, wunderte sich über die seltsame Darstellung. Offensichtlich zeigte das Bild ein Mädchen, das aus einem Fenster schaute, aber was sah sie? Es schien, als blickte sie nur auf ein wildes Sammelsurium von Büschen und Bäumen. Manche Linien waren fein gezogen, manche jedoch kräftig hervorgehoben. Frau Kuhnt konnte sich zunächst keinen Reim auf das Ganze machen. Sie nahm die Zeichnung mit ins Lehrerzimmer.
„Schaut einmal, was unsere Anna gemalt hat!“ Frau Kuhnt legte das Bild auf den Tisch. Wenn Anna etwas bewerkstelligte, war das ein Grund für alle Lehrer einmal genauer hinzuschauen. Das Bild wanderte von Hand zu Hand. Mit einem Achselzucken legten die meisten es wieder auf den Tisch zurück. Nur Herrn Marder fielen die kräftigen Striche in dem verwirrenden Geäst der Büsche auf. „Schaut einmal, das sind doch mehr als nur Äste. Hier, das ist ein Strichmännchen mit irgendetwas über dem Kopf. Und da, zwei weitere Figuren, die sich über ihn beugen. Komisch, der eine hat ganz große umrandete Augen, wie eine dicke Hornbrille.“ „Ich hab's“, rief Frau Kuhnt aus, „Anna muss den Überfall gesehen haben!“. „Richtig“, bestätigte Herr Marder, „sie stand am Fenster in meinem Musikraum zu der Zeit, als das passierte. Ich konnte sie kaum davon wegholen.“
Ein Junge mit eine großen Brille, so viele Kinder mit diesem Attribut gab es an der Schule nicht. Die Suche nach den Tätern hatte eine Wendung genommen, selbst wenn Anna nichts, aber auch rein gar nichts zu der Tat sagen konnte oder wollte. Aber ihr Bild war immerhin ein Anfang.
Suchbild (Kurzversion)
Anna erschrak heftig. Durch den Regenschleier hindurch sah sie, wie zwei größere Jungen sich auf einen Sechstklässler stürzten, ihm einen Sack über den Kopf stülpten, ihn zu Boden stießen, ihn brutal mit den Füßen traten und mit den Fäusten auf ihn einschlugen. Am ganzen Körper zitternd musste sich Anna vom Fenster des Musikraumes abwenden.
„Anna, kommst du bitte, alle anderen Kinder sind schon in der Pause. Ich möchte abschließen!“ Herr Marder trat auf Anna zu. „Was ist los, Anna, du zitterst ja wie Espenlaub?“ Anna schüttelte den Kopf und ließ sich von ihrem Musiklehrer aus dem Raum führen. Sie begab sich in den Aufenthaltsraum, wo sich bei dem starken Regen draußen die meisten Kinder eingefunden hatten. Der Schulhof selbst lag verwaist im Dauerregen, von den Schlägern keine Spur. Allein das Opfer schleppte sich scheinbar unter Schmerzen zum Schuleingang.
Die Nachricht vom Überfall verbreitete sich schnell unter Schülern und Lehrern, aber niemand hatte den Angriff gesehen. Es wurden viele Vermutungen angestellt, das Opfer ausführlich befragt, ohne Erfolg. Die Tat sollte wohl ungesühnt bleiben. Denn die einzige Zeugin, Anna, konnte darüber nicht sprechen.
Zwei Tage später brachte Frau Kuhnt eine Zeichnung mit in das Lehrerzimmer, die sie auf Annas Tisch gefunden hatte. Es zeigte ein Mädchen, das aus einem Fenster heraus in eine Wand aus Büschen und Bäumen schaute. Da Anna sonst kaum etwas von sich preisgab, wurde jedes ihrer Produkte von den Lehrern mit großem Interesse betrachtet. Aber dieses Bild legten die meisten von ihnen ratlos wieder auf den Tisch zurück, sie wurden daraus nicht schlau. Es war jedenfalls keine Aufgabe aus dem Kunstunterricht von Frau Kuhnt gewesen.
„Aber seht ihr das denn nicht?“ Herr Marder fuchtelte ganz aufgeregt mit der Zeichnung herum. „Hier, diese Striche. Das sind nicht einfach nur Äste und Zweige. Schaut mal, da verbirgt sich doch ein Strichmännchen in dem Gewirr der Linien. Es liegt auf dem Boden. Und hier, über ihm, zwei weitere Gestalten. Der eine hat ganz große Augen mit dicken schwarzen Ringen drumherum. Sieht wie eine Brille aus.“ „Anna muss den Überfall gesehen und gezeichnet haben“, wandte jetzt Frau Kuhnt ein. „Richtig,“ entgegnete Herr Marder, „sie stand ja zu dem Zeitpunkt am Fenster meines Musikraumes. Ich erinnere mich noch sehr gut, sie zitterte am ganzen Leib, konnte mir das aber nicht erklären.“
Der Fall hatte eine Wendung genommen. Wer war der Junge mit der Brille?