ARCHIV September 2011



eule



TUTOR

„Wie soll ich dir helfen, wenn ich dein Gekrickel beim besten Willen nicht entziffern kann?“ Volkers Opa blickte unsicher vom Mathematikheft seines Enkels hoch. „Warum schreibst du nicht leserlich, deine Eins sieht aus wie eine Sieben, deine Drei ähnelt schon eher einer Acht. So kann man nicht rechnen, so kann man sich nur viele Fehler einhandeln.“ Volker schaute seinen Opa fragend an, runzelte die Stirn, was bei einem Elfjährigen schon recht lustig aussah, und schüttelte den Kopf. „Nein, Opa, das stimmt nicht, ich kann alles gut lesen.“ Dann drehte er sich seiner Mutter zu, die hinter ihnen gerade einen Gugelhupf in den Backofen schob, und beschwerte sich: „Mama, Opa hat wieder seine Lesebrille vergessen, er kann nichts lesen. Kannst du ihm nicht deine ausleihen?“

Volkers Mutter schmunzelte nur, warf einen kurzen Blick auf das Hausaufgabenheft und entgegnete: „Da muss ich dem Opa wirklich recht geben, Volker. Ägyptische Hieroglyphen sind gar nichts gegen dein Gekrakel. Opa will dir doch nur helfen, die Mathearbeit am Dienstag mit Erfolg zu bestehen. Du weißt, was für dich auf dem Spiel steht, die letzte hättest du beinahe verhauen.“

„Ich hab aber keine Lust, diese blöde Bruchrechnung nervt mich nur, ich raff das nicht.“ Sein Opa versuchte ihn aufzumuntern: „Volker, das schaffen wir beide schon.“ An seine Tochter gewandt fragte er: „Theresa, wann ist der Kuchen fertig?“ Volkers Mutter schaute auf ihren Rezeptblock. „Der muss jetzt fünfzig Minuten in die Röhre, danach noch weitere zehn Minuten ruhen.“

„Prima, das ist doch eine überschaubare Zeit. Eine Stunde, Volker, und wir können deinen geliebten Gugelhupf anschneiden. So lange helfe ich dir mit den Matheaufgaben, wäre doch gelacht, wenn du deinen Lehrer nicht mit einer guten Note überraschen kannst.“ Volker wollte sich noch nicht geschlagen geben: „Muss das sein? Können wir das nicht heute Abend machen? Die Sonne scheint, lass uns doch lieber mein neues Modellboot zu Wasser bringen. Komm, Opa, das macht dir doch auch Spaß.“ Aber Volkers Opa hatte diese Verzögerungstaktik schnell durchschaut, beharrte auf der Übungsstunde. Er ließ sich auch vom fortgesetzten Quengeln seines Enkels nicht erweichen. Aufgabe für Aufgabe wurde in Angriff genommen. Wenn etwas mal wieder nicht lesbar war, blieb Volker nichts anderes übrig, als die Zahlen noch einmal zu schreiben. Da kannte sein Opa kein Pardon.

Der Kurzzeitwecker des Backofens schellte und beendete das Üben. Die Hausaufgaben waren geschafft, Volker hatte sogar noch ein paar Zusatzaufgaben gerechnet, weil er das Bruchsystem endlich verstanden hatte. Ein Strahlen glitt jetzt über sein Gesicht, wobei nicht klar war, ob es der erfolgreichen Übungsstunde mit dem Opa galt oder dem goldgelben Gugelhupf, den seine Mutter jetzt aus dem Backofen holte und auf den Küchentisch zum Abkühlen stellte. „Da läuft uns schon jetzt das Wasser im Munde zusammen, nicht wahr, Volker? Noch zehn Minuten und wir können den Kuchen anschneiden!“

„Nun, wie war die Mathearbeit?“, fragte ihn seine Mutter, als Volker zwei Tage später von der Schule nach Hause kam. „Prima“, antwortete er, „die war gar nicht so schwer.“ Auf sein Bauchgefühl bei Klassenarbeiten konnte sich Volker eigentlich verlassen, das würde auch diesmal stimmen. Rückblickend war er seinem Opa für die Nachhilfe am Sonntag dankbar. Sicher, er hätte sich auch an einen der Tutoren in der Schule wenden können, um das Matheproblem zu lösen. Aber Opa war nun mal der beste Tutor weit und breit, seine Engelsgeduld hätte sonst wohl niemand aufgebracht.



TUTOR (verkürzte Version)


Die Mathearbeit ging Volker nicht mehr aus dem Kopf. Nur noch vier Tage und er musste beweisen, dass seine letzte Note ein Ausrutscher war. Das Kribbeln in seinem Bauch wurde dringender, sein Schlaf schlechter. Wie konnte er nur sicherstellen, dass diesmal wirklich nichts schief ging? Er starrte hilflos auf das Aufgabenpäckchen in seinem Hausheft.


Volkers Mutter trat in sein Zimmer. Selbst wenn sie die Türklinke leise gedrückt hatte, Volker schreckte hoch, sein schlechtes Gewissen meldete sich, die Lösungen waren immer noch nicht gefunden. Seine Mutter schaute ihm über die Schulter und sah mit einem Blick auf das leere Blatt, was los war. Volkers Herz klopfte wild, seine Augen wurden feucht.


Ach, Volker, klappt's mal wieder nicht? Lass dir doch endlich von Opa helfen, der kann das doch.“ Sein Seufzen nahm die Mutter als Zustimmung. Wenige Minuten später rief sie ihren Vater an, bat ihn vorbeizuschauen und ihrem Sohn in Mathematik auf die Sprünge zu helfen.


Volker, mein Junge, wer soll denn dieses Gekrakel lesen? Wenn du so unsauber schreibst, machst du jede Menge unnötige Fehler. Ich kann das beim besten Willen nicht entziffern.“ Volker runzelte die Stirn: „Mama, Opa hat wieder seine Lesebrille vergessen, er kann nichts lesen. Kannst du ihm nicht deine ausleihen?“ „Das werde ich bestimmt nicht, denn Opa sieht selbst im Dunkeln noch wie ein Luchs. Lerne endlich, sauber zu schreiben. So, und jetzt lasse ich euch beiden allein und back erst mal einen schönen Gugelhupf. Wenn ihr fertig seid mit dem Üben, steht der Kuchen zur Belohnung auf dem Küchentisch. Ist das ein Angebot?“


Damit verschwand seine Mutter aus Volkers Zimmer, Opa würde es schon richten. Widerwillig zunächst, dann aber mit wachsendem Eifer ließ Volker sich helfen, denn endlich verstand er Zusammenhänge, die ihm bis dahin verborgen geblieben waren. Nach der Übungsstunde strahlten beide um die Wette, ihre Freude wurde noch größer, als sie den goldgelben Gugelhupf anschneiden konnten.


Am Dienstag nach dem Wochenende mit Opa schrieb Volker die Mathearbeit. Diesmal versperrte ihm keine Angst den Blick auf die Lösung der Aufgaben. Nach seinem Bauchgefühl, auf das er sich eigentlich immer verlassen konnte, war die Arbeit gelungen. Auf Opa konnte man sich verlassen, er war ein sehr geduldiger Lehrer. Volker fragte sich, ob er mit der Schülerhilfe durch Oberstufenkinder auch so gut vorangekommen wäre. Vielleicht, aber so hatte es auf jeden Fall gut geklappt. Danke, Opa.



Tut mir leid, die hier zunächst veröffentlichten Texte sind jetzt nur noch im Persen-Verlag erhältlich:

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