ARCHIV Juli 2011
BRONZE
Mit den Füßen schon im grasgrünen Wasser schaute Jochen unsicher zu seinem Vater hinüber. Entengrütze bedeckte die Ränder dieses kleinen Teiches, dazwischen wieselten Schwärme kleiner dickbauchiger Kaulquappen durch das Schilf des Uferrandes. Jochen konnte seinen Ekel nur mit Mühe überwinden. Und jetzt sollte er auch noch zu seinem Vater hinüberschwimmen, ihn an dem alten Stamm erreichen, der dort in den leicht gekräuselten Wellen vor sich hindümpelte. Unsicher streckte er die Arme aus, deutete die immer wieder geübten Schwimmbewegungen an. Es kostete ihn unsägliche Überwindung, sich Schritt für Schritt weiter in den Teich hineinzubewegen. Da halfen auch alle aufmunternden Zurufe des Vaters nichts, das hier war eine echte Qual.
Aber was war schlimmer, diese Herausforderung oder die schreckliche Sportnote, die er nur deswegen kassiert hatte, weil er nicht schwimmen konnte? Ein Sechstklässler, der nicht schwimmen konnte! So etwas durfte es an seiner Schule nicht geben. Daher hatte er sich fest vorgenommen, in den Sommerferien endlich das Schwimmen zu lernen, egal wie und wo. Der Urlaub am Chiemsee schien sich besonders gut dafür zu eignen, rundherum gab es kleine verschwiegene Weiher, die sich gut zum Üben eigneten, ohne dass ihn Gleichaltrige beobachten konnten.
Also Augen zu und durch! So kalt war das Wasser gar nicht, aber als er die ersten zwei Schwimmzüge getan hatte, wurde ihm doch flau im Magen. Irgendetwas kitzelte an seinen Beinen, erschrocken begann Jochen zu strampeln. Von einem Augenblick zum anderen verlor er seinen Mut, vergaß einen weiteren Schwimmzug und tauchte unter. Laut prustend kam er wieder hoch, japste nach Luft und versuchte sich zu beruhigen. Die Rufe seines Vaters nahm er überhaupt nicht wahr. Der Schreck war aber heilsam gewesen. Jochen besann sich seiner guten Vorsätze und der zigmal auf dem Trockenen geübten Bewegungen, zog sich im Wasser vorwärts, Zug um Zug, bis er endlich den Baumstamm erreichte. Leider rutschte er im ersten Augenblick an der glitschigen Oberfläche ab, da war keine Borke mehr, die einen sicheren Zugriff erlaubt hätte. Sein Vater kam ihm zur Hilfe, und noch ganz außer Atem konnte er endlich eine Pause einlegen.
Opa Dakert stand seelenruhig am Beckenrand, es goss in Strömen. „Also, Junge, wenn du heute dein Bronze machen willst, dann rein ins Wasser.“ In den letzten Wochen nach dem Chiemsee Urlaub war Jochen fast jeden Tag im Freibad gewesen. Der alte Bademeister, sie nannten ihn alle nur Opa Dakert, hatte ihm mit viel Ruhe und Zuversicht geholfen, seine ersten Schwimmversuche zu verbessern, seine Ausdauer zu trainieren. Heute sollte es endlich soweit sein, das Jugendschwimmabzeichen in Bronze war nur noch eine Frage von 200 Metern Schwimmen, etwas Tauchen und, Jochen schluckte beim Gedanken an die letzte Herausforderung, eines Sprungs vom Einmeterbrett. Der Dauerregen der letzten beiden Tage hatte die Luft merklich abgekühlt, aber das Wasser war wirklich noch angenehm warm. Jochen fand die Ochsenaugen auf der glatten Oberfläche des 50m Beckens eher lustig, er war auch fast allein mit Opa Dakert im großen Freibad. In aller Ruhe schwamm er die geforderte Strecke, die fünfzehn Minuten unterbot er zwar nur knapp, aber es reichte für das bronzene Abzeichen.
Dann warf Opa Dakert einen Hartgummiring ins Wasser. Jochen hielt sich am Beckenrand fest, holte tief Luft und tauchte hinab. Das Chlorwasser biss in seinen Augen, er verengte sie zu Schlitzen, gerade noch breit genug, den roten Fleck am Grund zu erkennen. Dann hatte er ihn gefasst. Hastig stieß er sich nach oben hoch, durchbrach die Wasseroberfläche und hielt dem Bademeister seine Beute stolz hin. Bis jetzt war alles wunderbar gelaufen.
Doch nun kam der letzte Teil dieser Prüfung. Jochen stieg aus dem warmen Wasser, folgte Opa Dakert bibbernd zum Einmeterbrett. Die Gänsehaut auf seinem Körper verstärkte sich noch, als er langsam Schritt für Schritt auf dem Brett nach vorne trat. Er schaute auf das Wasser hinab. Oh Graus, warum muss das Brett so hoch sein. Er zitterte am ganzen Leib.
BRONZE (Kurzversion)
Das Wasser sah eklig aus. Entengrütze bedeckte die Oberfläche des Badeteiches, den Jochen und seine Eltern an diesem Morgen bei einer Fahrradtour rund um den Chiemsee erreicht hatten. Kaulquappen schwammen in Schwärmen durch das Nass. Und hier sollte, nein, wollte er schwimmen lernen? Unschlüssig tastete sich Jochen mit den Füßen voran, nicht weit von ihm schwamm sein Vater in der Nähe eines abgestorbenen Baumstammes. „Komm, sei kein Frosch, es sind nur wenige Schwimmzüge bis hierher, das schaffst du. Dann kannst du dich am Stamm ausruhen.“
Die aufmunternden Worte waren notwendig. Jochen musste es wagen, die Fünf in Sport auf dem Jahreszeugnis war schlimm genug. Ein Sechstklässler, der nicht schwimmen konnte, so etwas durfte es an seiner Schule nicht geben, da kannte der Sportlehrer kein Pardon. Also tief Luft holen, ein paar Trockenübungen noch ohne Wasserberührung und dann Augen zu und durch.
Opa Dakert stand am Beckenrand und beobachtete Jochen, der heute sein bronzenes Jugendschwimmabzeichen holen wollte. Die letzten Wochen nach dem Urlaub mit den Eltern hatte er jeden Tag das Freibad aufgesucht und unter der Obhut des alten Bademeisters seine Schwimmfähigkeiten verbessert. Heute wollte er die Belohnung für all seine Überwindungskünste und Anstrengungen einfahren, der Schein lag schon auf dem kleinen Tisch neben dem Sprungturm, abgedeckt mit einer Plastikfolie. Es goss nämlich in Strömen, die Luft war kalt, das Wasser fühlte sich heute dagegen richtig warm an.
Also auf zu den zweihundert Metern Dauerschwimmen, schaffen würde er diese Strecke, hoffentlich auch in der vorgegebenen Zeit. Ruhig zog Jochen seine Bahnen, auf einmal konnte er das Schwimmen sogar genießen. Bei diesem Wetter war er praktisch mit Opa Dakert allein in dem großen Freibad, ein weiterer Vorteil, wusste er doch, dass nach dem Schwimmen noch zwei weniger schöne Prüfungen auf ihn warteten. Dafür brauchte er keine Zuschauer, vor allem keine Klassenkameraden oder andere Kinder aus seiner Schule.
„Prima, du hast die Zeit eingehalten, Jochen,“ rief Opa Dakert ihm zu, als er endlich anschlug. Dann nahm der Bademeister einen Ring und warf ihn ins Becken. Das Chlorwasser behagte Jochen nicht, es brannte in seinen Augen. Er schloss sie zu Schlitzen, bis er den Ring nur noch als roten Fleck am Beckengrund erkennen konnte. Prustend kam er einen Augenblick später wieder hoch und hielt Opa Dakert stolz den Ring entgegen. Doch jetzt kam das Schlimmste, er wusste nicht, wie er das überstehen sollte. Widerwillig trat Jochen auf das Einmeterbrett, Schritt für Schritt bewegte er sich auf die Kante zu. Oh, Graus, warum musste das Brett so hoch über dem Wasser sein. Gänsehaut überzog seinen ganzen Körper, er begann zu zittern. Nein, das kann ich nicht! Jochen bewegte sich einen Schritt zurück, wandte den Kopf und sah aus den Augenwinkeln das Schwimmabzeichen in der Folie.
Tut mir leid, die hier zunächst veröffentlichten Texte sind jetzt nur noch im Persen-Verlag erhältlich: