ARCHIV Juni 2011


eule






Vermasselt


„Nein, nein und nochmals nein, die Klassenfahrt ist gestorben. Bedankt euch bei jenen, die unser Vertrauen wieder und wieder missbraucht haben. Ich weiß, wie sehr ihr euch auf Wangerooge gefreut habt, aber ich kann keine Klasse mit auf Fahrt nehmen, in der wohlmöglich jeden Augenblick wieder was gestohlen wird. Nein, es bleibt bei meinem Nein. In diesem Jahr fahren wir nicht!“


Betretenes Schweigen in der Klasse. Niemand wagte mehr, einen letzten Versuch bei Frau Martin zu starten. Sie hatte ja auch irgendwie recht. Es war in den vergangenen Monaten bald keine Woche vergangen, ohne dass etwas verschwunden war. Mal waren es ein paar Euro aus einem Portemonnaie, mal eine Uhr, dann sogar ein Paar Turnschuhe und ein Handy.


Eine schlimme Zeit. Frau Martin hatte zu Schuljahresbeginn bei der ersten Planung für den Wangerooge Aufenthalt ganz klare Bedingungen gestellt. Viele fanden das übertrieben. Angefangen mit der Sauberkeit, damals noch auf den eigenen Klassenraum bezogen, ging es weiter mit dem Thema Pünktlichkeit und Verlässlichkeit. Das hörte sich alles so selbstverständlich an, dass niemand auch nur im Entferntesten an ein Scheitern ihrer Pläne gedacht hatte. Doch dann begann die Diebstahlserie.


Schlimm auch, dass der oder die Täter wirklich aus der Mitte der eigenen Klasse kommen mussten. Franziska dachte an den Vorfall mit den Turnschuhen und dem Handy. Nicht nur, dass Thomas und Fikret stink sauer waren, als sie nach dem Hallensport in die Umkleidekabine zurückkamen und das Fehlen der Gegenstände bemerkten. Da sie an diesem Tag die einzige Klasse in der Dreifachturnhalle waren und außerdem kein Fremder von Außen in die Umkleide eindringen konnte, – der Türknauf wusste das zu verhindern – konnte sich nur jemand von ihnen an den Dingen vergriffen haben.


Und doch waren es gerade diese beiden Jungen gewesen, die die größten Anstrengungen unternommen hatten, Frau Martin umzustimmen. Sie als Geschädigte wollten trotz alledem nicht auf die Tage an der See verzichten. Was hatten sie nicht schon alles geplant! Der Wettbewerb im Sandburgenbau sollte einer der Höhepunkte sein, der Grusel-Vorleseabend mit anschließender Nachtwanderung konnte schon jetzt alle in ihren Bann ziehen, dazu das Sammeln von Strandgut und der damit verbundene Bau von Phantasiefiguren und vieles mehr. Und jetzt sollte das alles ein Traum bleiben?


Verstohlene Blicke huschten durch die Klasse. Warum bekannten sich die Diebe nicht endlich zu ihren Untaten? Dann müssten sie vielleicht zu Hause bleiben, aber der Rest könnte wenigstens fahren. Aber nein, niemand gestand seine Dummheit ein, wollte sein Gesicht verlieren und den Ärger der ganzen Klasse auf sich ziehen. Verdächtige hatte es in den letzten Wochen genug gegeben, aber keine Beweise. Sicher, Marlon und Theresa waren während jener Sportstunde mal zur Toilette gegangen, aber waren sie deswegen schon die Diebe? Und was war mit Samet, er hatte in letzter Zeit verdächtig viel Taschengeld dabei, konnte sich auf einmal Schlickereien in der Pause beim Kiosk kaufen, die er sich bis dahin nicht leisten konnte oder wollte.


Wenn man alles berücksichtigte, was in letzter Zeit an Veränderungen in der Klasse auffällig geworden war, ja, dann war mindestens die halbe Klasse verdächtig. Missmutig kaute Franziska auf ihrem Bleistift herum, wer konnte ihnen diese Fahrt nur in so niederträchtiger Art und Weise vermasselt haben? Aber vielleicht würden sie das nie herausfinden. So blieb nur die Hoffnung, dass in den kommenden Monaten nichts Schlimmes mehr passierte und wenigstens eine Klassenfahrt im Jahr darauf möglich wurde. Vielleicht.




Vermasselt (Kurzversion)


Das Nein der Klassenlehrerin war endgültig, sie würden dieses Jahr nicht mit der Klasse nach Wangerooge fahren. Frau Martin ließ sich nicht  erweichen, sie hatte kein Vertrauen mehr in ihre Schülerinnen und Schüler. Hatte sie nicht zu Beginn des Schuljahres allen ganz klar zu verstehen gegeben, dass eine Klassenfahrt nur stattfinden konnte, wenn es zuvor keine Probleme geben würde?


Doch die hatte es leider immer wieder gegeben. Dabei ging es nicht um die von Frau Martin eingeforderte Sauberkeit in der Klasse, um die Pünktlichkeit zu Stundenbeginn. Etwas Schlimmes war in den letzten Wochen wiederholt geschehen, Dinge wurden entwendet und tauchten leider nie wieder auf.


Franziska musste an das gestohlene Geld denken, an die aus der Umkleidekabine der Dreifachturnhalle entwendeten Turnschuhe und das Handy. Fikret und Thomas waren damals stink sauer gewesen, als sie den Verlust der Gegenstände bemerkten. Das Schlimme war, es konnte wirklich nur jemand aus der eigenen Klasse gewesen sein. Die Umkleide war von Außen nicht zugängig, der Knauf an der Tür wusste das zu verhindern, und sie waren an dem Tag die einzige Klasse in der Turnhalle gewesen.


Obwohl sie die Hauptgeschädigten waren, ließen Fikret und Thomas nichts unversucht, um Frau Martin doch noch umzustimmen. Die beiden wollten wie der Rest der Klasse unbedingt an die See auf die Insel Wangerooge. Was hatten sie nicht schon alles geplant! Sandburgen wollten sie bauen, Strandgut sammeln und lustige Figuren daraus bauen, eine Lesenacht mit Gruselgeschichten verbringen, anschließend eine Nachtwanderung durchführen und vieles mehr. Und jetzt sollte alle Planung für die Katz' gewesen sein?


Franziska schaute sich in der Klasse um. Da war nur betretenes Schweigen nach Frau Martins endgültigem Nein. Warum konnten sich die Diebe, falls es mehrere waren, nicht endlich zu ihren Untaten bekennen und die Klassenfahrt doch noch im letzten Augenblick möglich machen? Viele hatten sich in den letzten Wochen durch ihr Verhalten verdächtig gemacht, Samet hatte auf einmal mehr Taschengeld als sonst, Marlon wollte sein neues Handy nicht mit zur Schule bringen, wo er doch sonst alles Neue mit Stolz zur Schau trug. Theresa war auf einmal so zurückhaltend geworden, andere waren auch durch dieses oder jenes Verhalten, das man sonst bei ihnen nicht gewohnt war, in die Liste der Verdächtigen aufgenommen worden. Doch Beweise gab es gar keine.


Missmutig kaute Franziska auf ihrem Bleistift herum. Wer konnte nur so gemein sein und ihnen allen die freudig erwartete Wangerooge Fahrt vermasseln? Aber vielleicht würden sie das nie herausfinden. Was blieb, war die Hoffnung, dass es in den nächsten Monaten keine unliebsamen Vorfälle mehr gab und damit vielleicht eine Klassenfahrt im kommenden Schuljahr möglich wurde. Vielleicht.



Vermisst


Die Furchen über der Nasenwurzel von Frau Zizke gruben sich immer tiefer in ihr Gesicht, ihre Augen funkelten schon ganz böse. „Was ist denn hier heute los? Wo bleibt euer fünfter Mann zum Küchendienst?“ Das klang auch schon sehr wenig freundlich. Aber die Kinder hatten in den letzten Tagen Frau Zizke kennengelernt, sie wussten, dass sich hinter dieser grimmigen Fassade ein gutes Herz und eine große Liebe zu Kindern verbarg. Nur, der Küchendienst klappte heute abend wirklich nicht, das Geschirr und die Schüsseln stapelten sich auf dem Brett vor dem großen Schiebefenster der Essensausgabe, und das konnte Frau Zizke nun wirklich nicht vertragen.


Wo ist Svenja? Die vier übrig gebliebenen Helfer schauten sich an und verdrehten die Augen über den Ausbruch der Küchenfee. Sie konnten doch nichts dafür, dass Svenja nicht auftauchte. „Svenja!“ schallte es über die Flure des Schullandheimes, „Svenja, wo steckst du? Du hast heute Küchendienst!“ Aber da kam keine Svenja um die Ecke und die Vier mussten wohl oder übel ihren Dienst mit übernehmen. Sie beeilten sich, die Tische zu decken, wollten es nicht mit Frau Zizke verderben.


Als Martin endlich den Gong schlagen durfte, strömten alle Kinder der beiden Klassen 6a und 6b in den Essenssaal, bis auf Svenja. „Herr Franzen, die Svenja ist nicht da,“ wandte sich Babsi aufgeregt an ihren Klassenlehrer. Der blieb zunächst einmal ganz ruhig, wollte nur wissen, wann man sie denn das letzte Mal gesehen hätte. Das war aber der springende Punkt, niemand hatte Svenja nach dem Beginn der Nachmittagsfreizeit mehr gesehen. Anja erinnerte sich nur, sie zuletzt in einer Ecke des Aufenthaltsraumes mit dem Handy in der Hand wahrgenommen zu haben. Sie hatte dabei sehr bedrückt ausgesehen. Aber seit dieser Zeit hatte sich Svenja scheinbar in Luft aufgelöst.


Das Schullandheim auf Wangerooge lag direkt hinter den großen Sanddünen, der Strand war nur wenige Schritte entfernt. Den ganzen Tag über war der Himmel bedeckt gewesen, Sturm war aufgekommen, niemand hatte sich an diesem Nachmittag am Wasser aufhalten dürfen. Draußen wurde es allmählich schummrig. Die Mädchen aus Svenjas Stube bestürmten Herrn Franzen, Svenja suchen zu dürfen. Er war aber strikt dagegen, Kinder loszuschicken, bat vielmehr seine beiden Kolleginnen, einen Blick über Dünen und Strand zu werfen.


Die Zeit verging, von Svenja keine Spur. Die beiden Lehrerinnen kamen nach einer Stunde unverrichteter Dinge wieder zum Heim zurück. Sollten sie nicht jetzt lieber die Polizei informieren? Die Lehrer riefen die Kinder von Svenjas Stube zusammen und fragten sie, ob sie in den letzten Tagen etwas Außergewöhnliches an ihrer Klassenkameradin bemerkt hätten. Doro meinte mitbekommen zu haben, dass Svenja wohl Streit mit ihrem zu Hause gebliebenen Freund gehabt hätte. Die beiden hätten sich über Handy gestritten. Die Mädchen hätten sie aber nicht mit neugierigen Fragen belästigen wollen, Svenja war in dem Punkt immer sehr zugeknöpft gewesen.


Herr Franzen schaute auf seine Uhr, halb zehn, draußen wurde es zunehmend dunkel. Jetzt musste etwas geschehen. Er machte sich jetzt offensichtlich genauso große Sorgen wie die Kinder. Er blickte hinaus auf die Dünen, auf denen sich im stärker werdenden Sturm die Halme des Strandhafers immer tiefer duckten. Sand wirbelte auf, drehte sich über den Platz vor dem Haupthaus. Herr Franzen steckte gerade seine Hand in die Hosentasche, um sein Handy hervorzukramen, als oben am Dünenrand eine Gestalt auftauchte und sich langsam dem Heim näherte.


„Svenja! Das ist Svenja!“, riefen die Mädchen, die Herrn Franzens Blick gefolgt waren. Sie stürmten aus dem Zimmer und liefen Svenja entgegen. Wenige Augenblicke später stand diese mit vollkommen verheultem Gesicht auf der Türschwelle, in die Arme genommen und getröstet von Doro und Babsi. Ihr Schluchzen ging in dem aufgeregten Wortschwall der Kinder unter.




Vermisst (Kurzversion)


Frau Zizkes roter Kopf schob sich durch das Fenster der Essensausgabe. „Was ist denn bloß los, die Schüsseln stehen hier immer noch, der Küchendienst läuft heute ja überhaupt nicht! Beeilt euch endlich, das Geschirr auf die Tische zu stellen!“ Ihr Ärger war berechtigt, aber was konnten die Kinder dafür, wenn sie eine Hilfe weniger waren als geplant. Svenja ließ sich nicht blicken, sie war im ganzen Bereich des Schullandheims auf Wangerooge nicht anzutreffen. Da konnten die anderen rufen, so laut sie wollten, Svenja tauchte nicht auf. Wohl oder übel mussten sie ihre Arbeit mit übernehmen.


Als Martin den großen Gong schlug, stürmten alle Kinder der beiden Klassen 6a und 6b in den Speisesaal, Svenja war nicht dabei. Aufgeregt wandte sich der Küchendienst an Herrn Franzen, doch der blieb zunächst einmal ganz gelassen, wollte nur wissen, wann und wo sie Svenja das letzte Mal gesehen hätten. Das war aber schon eine Weile her. Anja erinnerte sich, Svenja nach der Mittagspause allein im Aufenthaltsraum gesehen zu haben. Sie hatte wohl gerade mit jemandem über ihr Handy telefoniert, sah dabei ziemlich bedrückt aus. Es waren anscheinend eher schlechte Nachrichten gewesen.


Das Schullandheim auf der Insel Wangerooge lag direkt hinter den großen Sanddünen, der Strand war nur wenige Schritte entfernt. Aber da sich das Wetter im Laufe des Tages verschlechtert hatte, durfte niemand an den Strand gehen. Sturm war aufgekommen, draußen brach die erste Dunkelheit herein. Die Mädchen aus Svenjas Stube wurden unruhig, sie liefen zu Herrn Franzen und baten ihn, nach ihrer Klassenkameradin suchen zu dürfen. Dagegen war ihr Lehrer aber strikt, stattdessen zogen seine beiden Kolleginnen los, Svenja zu suchen.


Nach einer Stunde kamen sie jedoch unverrichteter Dinge wieder zum Heim zurück. Jetzt schien wohl auch den Lehrkräften die Zeit gekommen, die Polizei einzuschalten. Draußen war es dunkel geworden, die Dünen nur kaum noch zu sehen. Im stärker werdenden Sturm duckten sich die Halme des Strandhafers tiefer und tiefer, kleine Sandwirbel zogen über den Platz vor dem Haupthaus. Wo steckte Svenja? In der Heimanlage war sie jedenfalls nicht, da war von den Kindern alles abgesucht worden.


Herr Franzen wollte gerade nach seinem Handy greifen, als er draußen auf dem Kamm der Düne eine kleine Gestalt sich dem Heim nähern sah. Die Kinder folgten seinem Blick. „Svenja! Das ist Svenja!“, riefen die Mädchen und waren schon aus dem Haus gestoben. Aus dem Fenster heraus konnte Herr Franzen beobachten, wie die Mädchen auf Svenja zuliefen und sie umarmten. Wenige Augenblicke später stand sie mit gesenktem Kopf und total verweintem Gesicht auf der Türschwelle. „Svenja, was sind wir froh, dich wiederzusehen“, eilte Herr Franzen ihr entgegen. Svenja schluchzte auf, wenn sie etwas hatte antworten wollen, so ging das zumindest im Wortschwall der anderen Kinder unter. Jeder wollte wissen, was geschehen war.