LESEMAX - TEXTE

Leseeule



Die hier vorgestellten Texte eignen sich sowohl für den Einsatz in der Klasse als auch im Einzelunterricht (Förderstunde, häusliche Übung). Sie möchten zunächst einmal nur zum Lesen anregen, können natürlich auch inhaltlich erarbeitet werden. Die Inhalte spiegeln Erfahrungen und Erlebnisse aus jahrelanger Lehrtätigkeit wider, sie geben in der Regel Anlass zur Diskussion mit der Klasse.

Es empfiehlt sich, den jeweiligen Text für die weitere Arbeit herunterzuladen, der Link liegt auf der Überschrift.

Da jedem Text ein "Hörbeispiel" zugeordnet ist, sollten die Texte - je nach Stand der Lesefertigkeit - zur Verbesserung der eigenen Leistung in verschiedenen Tempi laut mitgelesen werden (s. Konzept, Phase I).

Als zusätzliche Hilfestellung sind den Textdateien z.T. schon Tabellen angehängt,  die wie ein persönliches Lexikon wirken. Die Schüler suchen zu den - ihnen in der Regel eher unbekannten - vorgegebenen Begriffen Synonyme bzw. Definitionen. Die Auswahl der Begriffe hat sich aus den Erfahrungen der praktischen Arbeit mit sprachschwachen Kindern ergeben. Diese maximale Hilfestellung sollte jedoch zunehmend abgebaut werden, die Auswahl sich an den tatsächlichen Bedürfnissen der Schüler orientieren.


im Dezember 2011


Geschenk


Die drei etwa gleichaltrigen Jungen vor ihm auf dem Gehweg kannte Tim nicht. Breitbeinig stellten sie sich vor ihm auf und versperrten den Bürgersteig. Nichts Gutes ahnend wollte Tim auf die Straße ausweichen, aber da hatte ihn schon der größte unter ihnen am Ärmel seines neuen Anoraks gepackt. „He, Kleiner, du wirst doch nicht vor ein Auto laufen wollen, das könnte gefährlich werden.“ Der ironische Unterton, mit dem sich der Lange mit dem Kurzhaarschnitt an ihn wandte, war nicht zu überhören. Tim wollte sich losreißen. „Lass mich in Ruhe, ich kann alleine auf mich aufpassen.“


Kannst du nicht, Kleiner, das übernehmen wir ab sofort. Wir wollen ja, dass du heil zu Hause ankommst, nicht wahr, Leute?“ Die anderen beiden nickten grinsend, standen jetzt dicht um ihn herum. „Kostet dich nur etwas, unser ganz besonderer Schutz.“ Tim erstarrte, ängstlich blickte er um sich, aber da war sonst niemand, den er hätte um Hilfe angehen können. Und bevor er überhaupt auf den Gedanken kommen konnte, um Hilfe zu schreien, presste sich schon eine Hand auf seinen Mund. Der Dicke mit der gegelten Frisur hatte ihn von hinten gepackt, drückte mit dem Arm gegen seine Kehle.


Pass auf, Kleiner, du überlässt uns jetzt deine Jacke, um deinen guten Willen zu zeigen. Dann kannst du in Ruhe heim gehen zur Mama.“ Opas Geschenk zum Nikolaustag, nie, nie würde er den schönen Anorak hergeben! Er versuchte sich aus der Umklammerung zu befreien, trat mit den Beinen um sich, umsonst. Zwei der Rabauken rissen ihm das Kleidungsstück vom Leib, egal, wie heftig er sich wehrte. „Na, geht doch“, spöttelte ihr offensichtlicher Anführer, „welch ein schönes Weihnachtsgeschenk für meinen armen kleinen Bruder, und jetzt hau ab, du langweilst uns.“ Damit liefen die drei Räuber lachend davon, bogen um die nächste Straßenecke und waren nicht mehr zu sehen.


Tim griff nach seiner Schultasche, die noch in der Gosse lag. Verzweifelt und mit Tränen in den Augen stürzte er den Bürgersteig entlang. Wie sollte er das nur zu Hause erklären? Er hatte sich so über Opas Geschenk gefreut und den Anorak voller Stolz heute zum ersten Mal auch für den Schulweg angezogen. Was würde Opa denken, der würde ihm doch nie wieder ein so teures Geschenk machen. Die Winterkälte kroch durch seinen Pullover, machte den Verlust der schönen Jacke noch um so spürbarer.


Tim, bist du es?“, hörte er seine Mutter rufen, als er die Haustür aufschloss. Als er eine kaum hörbare Antwort murmelte, kam seine Mutter aus der Küche in den Flur und schaute Tim mit seinen rot geränderten Augen besorgt an. „Was ist los? Was ist passiert?“ Dann erst bemerkte sie, dass Tim ohne seinen neuen Anorak ins Haus gekommen war. Aus ihrer Sorge wurde Ärger. „Sag nicht, dass du Opas Geschenk in der Schule verbummelt hast, Tim. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Wo ist der Anorak? Wie kannst du Opa so enttäuschen! Dieses wunderschöne Stück, wo ist es?“


Tim blickte unglücklich zu Boden, versuchte dem strengen Blick der Mutter auszuweichen. Einen Augenblick lang überlegte er, ob es nicht besser war, auf Mamas Idee von der verbummelten Jacke einzugehen. Vielleicht traf er die drei Übeltäter ja am nächsten Tag wieder, vielleicht würden sie ihm die Jacke zurückgeben, das Ganze als einen Scherz darstellen. Aber nein, er hatte solche Geschichten schon zigmal von anderen Kindern gehört, die hatten ihre Sachen nie wieder gesehen. Tims Mundwinkel zuckten, er wollte der Mutter alles erklären. Aber dann brach es nur in einem Schwall von Wut und Enttäuschung aus ihm heraus. Bitterlich schluchzend erzählte er, immer wieder stockend, was auf dem Heimweg geschehen war.


Geschenk (Kurzversion)



Der Wind pfiff eiskalt durch die Straße, Tim zog sich tiefer in seinen neuen Anorak hinein. Wie gut, dass sein Opa ihn dieses gute Stück zum Nikolaustag geschenkt hatte. Gedankenverloren dachte er an den Tag zurück, als er ganz unerwartet das Geschenk auf seinem Bett liegen sah. Daher übersah er auch die drei Jungen, die sich ihm auf dem Bürgersteig in den Weg stellten. Er wäre beinahe in sie hineingelaufen.


"He, Kleiner, nicht so eilig, du wirst doch noch einen Augenblick Zeit für ein paar gute Freunde haben." Kräftige Hände packten ihn am Ärmel und hinderten ihn, weiterzugehen. Er kannte sie nicht, sah aber mit einem Blick, dass sie nichts Gutes im Schilde führten. Sein Versuch, sich an ihnen vorbeizudrücken, scheiterte kläglich. Jetzt hatten sie ihn umstellt, schupsten ihn von hinten und vorne. "Hör mal, du willst uns doch wohl nicht ärgern wollen, wir sind doch deine Freunde, wollen dich beschützen. Diese Straße soll sehr unsicher sein. Kostet dich nur ein wenig."


Freunde, er kannte sie noch nicht einmal. Das sah nicht gut aus für Tim. "Weißt du was, für unseren Schutz überlässt du uns als Zeichen deines guten Willens deinen Anorak. Mein kleiner Bruder kann den gut gebrauchen, der friert immer so schnell. Außerdem ist bals Weihnachten. Da fehlt mir eh noch ein Geschenk." Tim erschrak, der neue Anorak, nein, das durfte nicht passieren, wie sollte er das Opa erklären.


Hart griff der Anführer der Bande zu, riss seine Schultasche von seinem Rücken, zog ihm den Anorak vom Körper. Bibbernd stand Tim auf dem Gehweg, während die drei Halunken lachend davonliefen und in einer Seitenstraße verschwanden. Tränen standen in seinen Augen, wie durch Nebel hindurch blickte er auf seine Schultasche in der Gosse, hob sie hoch und schleppte sich mühsam die Straße entlang nach Hause.


"Tim, bist du wieder da?", rief seine Mutter aus der Küche. Als er keine Antwort gab, kam sie in den Flur und schaute entsetzt auf ihren verweinten Sohn. Erst jetzt bemerkte sie, dass der nur im Pullover vor ihr stand, der Anorak fehlte. Noch bevor sie schimpfen konnte, berichtete ihr Tim, immer wieder von Schluchzern unterbrochen, was ihm auf dem Weg nach Hause zugestoßen war.


Sturm



Xaver wütete seit den Morgenstunden über dem Land, seine Böen drückten die entlaubten Baumkronen und Büsche tief hinab. Hier und da wirbelte noch ein Schauer trockener Blätter durch die nasskalte Luft dieses frühen Dezembertages. Schaurig heulte der Sturm um die efeubewachsenen Gemäuer der alten Schule.


Pira spürte den Hauch der Kälte durch die Fensterritzen auf ihre Arme kriechen. Versonnen schaute sie in das Toben des Unwetters hinter dem von Regentropfen gesprenkelten Glas. Dort, wo sie geboren war, gab es auch schwere Stürme mit Wassermassen, die wie aus Kübeln auf die Menschen herabfielen. Aber es war heiß und schwül dabei.


"Na, Fräulein Pirapalini, sind wir noch bei der Sache?" Pira zuckte ertappt zusammen und lächelte ihre Lehrerin schuldbewusst an. Eine Durchsage unterbrach in diesem Augenblick den Unterricht. Der Schulschluss wurde wegen des stärker werdenden Orkans auf den Mittag vorverlegt. Ein Begeisterungssturm brach in der Klasse los.


Pira hatte es nicht weit nach Hause. Sie stand vor dem Schultor und blickte in den niederprasselnden Regen. Wie gut, dass ihr Opa ihr zum Geburtstag einen riesengroßen, knallbunten Regenschirm geschenkt hatte. Heute musste er seine Bewährungsprobe bestehen. Sie zog den Schirm aus der Schutzhülle und öffnete ihn. Fantastisch, der war ja so groß, da konnte sie kein Regentropfen erreichen.


Den Tornister auf dem Rücken zog sie über den Schulhof los zu der kleinen Seitenstraße, die zur Bushaltestelle führte, hielt dabei ihren neuen Schirm mit beiden Händen ganz fest. Pira musste unwillkürlich lachen, als sie sah, wie ein Windstoß einige Schirme anderer Kinder umstülpte und der Regen sie im Nu durchnässte. Ihr Schirm hielt dem Ansturm stand, da hatte Opa ein gutes Stück gekauft.


Urplötzlich fühlte sie sich leicht wie eine Feder. Erschrocken schaute sie an sich hinab, ihre Füße standen nicht mehr fest auf dem Boden. Pira umklammerte krampfhaft den Stiel des Regenschirms, dessen Krücke sich zudem noch unter dem Gürtel ihrer Jacke verhakt hatte. Die nächste Böe hob sie in die Luft, einen Augenblick später flog sie bereits über das Dach der Schule. Andere Kinder zeigten aufgeregt nach oben, verfolgten mit ihren Blicken den regenbogenfarbenen Fleck vor dem grauen Dezemberhimmel. Was sie riefen, konnte Pira schon nicht mehr verstehen. Zu hoch hatte sie ein kräftiger Windstoß in die Wolken gerissen. Höher, immer höher ging die ungewollte Luftfahrt. Plötzlich durchstieß sie die Wolkendecke. Geblendet schloss Pira für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, blickte sie von oben auf eine weiße Schneepracht herab. Über ihr strahlte die Sonne am blauen Himmel. Doch da war noch etwas. Die ungewohnte Stille wurde von einem feinen Glockengeläut unterbrochen, das schnell aus dem Norden näher kam.


Pira wandte ihren Blick in diese Richtung und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Ein Schlitten fuhr auf sie zu, die rote Nase des vordersten Rentieres kannte sie nur zu gut aus dem Lied, das sie am Morgen noch gesungen hatten. Das musste Rudolph sein, und dort auf dem vollgepackten Schlitten niemand anders als der Weihnachtsmann. "Ho, ho, ho, kleines Fräulein, wohin des Weges?" Pira war zu verdutzt, als dass sie antworten konnte. Als der Weihnachtsmann den großen Schirm sah, wusste er gleich, in welches Abenteuer Pira da hineingerutscht, besser hineingeflogen war. "Komm, setz' dich neben mich auf den Schlitten. Eine kleine Unterbrechung wird mein Reiseplan schon vertragen. Ich bringe dich jetzt erst einmal sicher nach Hause. Doch dann müssen meine Rentiere und ich schnell weiter. Wir haben noch soviel zu tun bis Weihnachten!"



Sturm (Kurzversion)


Regen prasselte gegen die Fenster, verwelkte Blätter und kleine Zweige trommelten auf das Glas. Pira schaute gedankenverloren in das unheilvolle Toben jenseits des warmen Klassenzimmers. Draußen nahm der Orkan Xaver von Stunde zu Stunde an Stärke zu. Dort, wo sie geboren war, gab es auch solche Unwetter, bei denen Wassermassen aus den Wolken hervorbrachen und die Straßen im Nu in Flüsse und Seen verwandelten. Nur war es dabei schwülheiß. Jetzt aber zog der kalte Wind des frühen Dezembertages durch alle Ritzen und ließ Pira frösteln.


Sie schreckte auf, als ihre Lehrerin sie ansprach und bat, den nächsten Satz der lustigen Weihnachtsgeschichte zu lesen, die sie heute für die Klasse ausgesucht hatte. Aber gerade als sie zum Lesen ansetzte, kam eine Durchsage an alle Schüler. Der Unterricht sollte mittags schon beendet werden, die weitere Wettervorhersage klang gefährlich. Den Kindern war dieser Grund egal, sie freuten sich lauthals und fieberten der letzten Stunde entgegen.


Pira stand vor dem Schultor und blickte in den strömenden Regen. Wie gut, dass ihr Opa ihr zum Geburtstag einen riesengroßen bunten Regenschirm geschenkt hatte. Da würde sie schon trocken nach Hause kommen. Sie spannte den Schirm auf und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Es sah zwar lustig aus, wie die Windböen immer wieder Schirme anderer Kinder umstülpten und sie im Regen stehen ließen, Pira hoffte nur, dass ihr das nicht passieren würde.


Urplötzlich griff ein Windstoß unter ihren Schirm und hob sie in die Höhe. Opas gutes Stück durfte nicht verloren gehen. Krampfhaft hielt Pira den Schirmstock fest, während sie vom Sturm immer weiter hochgetragen wurde. Bald schon flog sie über das Schuldach, höher noch, durchbrach die Wolkendecke und sah eine Landschaft weiß wie Schnee unter sich. Über ihr schien die Sonne an einem strahlend blauen Himmel. Es wurde auf einmal ganz still um Pira herum.


Ganz still? Nicht ganz, in der Ferne vernahm Pira Glockengeläut. Ein Schlitten gezogen von Rentieren kam auf sie zu. Eingekeilt zwischen Unmengen von Päckchen und Paketen saß der Weihnachtsmann. Er brachte seinen Schlitten direkt vor ihr zu stehen, schaute sie fragend an, sah dann den riesengroßen Schirm und wusste, welches Abenteuer Pira gerade zu bestehen hatte. Pira war noch immer sprachlos, als der Weihnachtsmann ihr anbot, sie so schnell wie möglich sicher nach Hause zu bringen. Viel Zeit hätte er ja nicht, aber er könne sie unmöglich in so luftiger Höhe allein zurücklassen. Pira war einfach nur froh und sprang auf seinen Schlitten.