ARCHIV Mai 2011
Schwester
Elke war ein wahrer Wildfang. Kein Bach zu breit, als dass sie nicht darüber springen, keine Höhle zu eng, als dass sie nicht hineinkriechen wollte. Dazu ihre Begeisterung für das Klettern. Trotz ihrer erst sechs Jahre blieb kein Baum von ihr verschont. Manchmal konnte es ganz schön aufregend mit ihr werden. Mama und Papa waren nicht nur einmal schon in großer Sorge gewesen, wenn sie nicht mehr aufzufinden war oder nicht pünktlich am Tisch saß.
Ein klägliches Jammern klang aus der Höhe herab. Susanne schaute hoch und entdeckte den roten Flecken zwischen dem Grün der alten Eiche. Das konnte doch nicht wahr sein! Ihre Freundin Elke musste da oben stecken, sie hatte heute ihren roten Pulli an, wer sonst sollte also im Geäst des stattlichen Baumes versteckt sein. Aber diesmal schien sich ihre Freundin verstiegen zu haben, solche Klagelaute waren vollkommen ungewohnt bei ihr. Susanne musste gegen das Sonnenlicht blinzeln und ihre Augen mit der Hand abschatten, um sicher zu sein, dass dort oben Elke versuchte, von der Stelle zu kommen und den Baum wieder hinabzusteigen.
Elke rief um Hilfe, das hatte es noch nie gegeben. Immer war ihr bisher eine Lösung eingefallen. Susanne konnte und wollte nicht auf diesen großen Baum klettern, geschweige denn in Elkes schwindelnde Höhe. Schnell lief sie zum Haus der Eltern, traf aber nur Elkes Bruder Frank an. Sie bat ihn inständig, mitzukommen und Elke aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Frank lehnte geradeheraus ab. Heute war das lang ersehnte Fußballturnier, die Freunde warteten schon ungeduldig auf ihren besten Stürmer. Sollte seine Schwester doch sehen, wie sie aus der selbst eingebrockten Lage wieder herauskam. Nein, keine Hilfe für die nervende Schwester!
Aber Susanne ließ nicht locker, mittlerweile standen ihr Tränen in den Augen. Elke musste doch geholfen werden! Schließlich ließ sich Frank erweichen, zumindest mit zum Baum zu kommen, bevor er zum Fußballplatz weiterradelte. Mürrisch schob er das Rad hinter Susanne her und schimpfte wie ein Rohrspatz über seine Schwester, die wohl wieder einmal die Familie in Aufregung versetzen wollte. Sein Handy klingelte, Kazim war dran. Sie warteten schon ungeduldig auf ihn. Frank versprach, sich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen.
Er erschrak nicht wenig, als er seine Schwester so hoch oben in der Eiche sah. Gar nicht auszudenken, was ihr passieren würde, wenn sie aus der Höhe abstürzte. Er sah den Stamm hoch und fragte sich, wie es Elke überhaupt geschafft hatte, so weit zu klettern. Susanne musste ihm mit einer Räuberleiter helfen, damit er überhaupt einen ersten tragfähigen Ast fand, auf den er sich hochziehen konnte. Fünf Jahre älter als seine Schwester wog er auch viel mehr und konnte nicht jene dünnen Zweige als Kletterhilfe nutzen, die Elke bestimmt auf ihrem Weg nach oben ausgesucht hatte.
Frank schlug das Herz bald zum Halse heraus, als er sich seiner Schwester mühsam und im Zeitlupentempo näherte. Die schaute ihm mit verweinten Augen ängstlich zu, in der Hoffnung, endlich aus ihrem selbst gewählten Gefängnis erlöst zu werden. Unten starrte Susanne zu den beiden hoch und betete, dass alles gut gehen würde. Als Frank seiner Schwester die Hand reichen konnte, waren alle drei erleichtert, was sollte jetzt noch schiefgehen? Elke fasste zitternd zu und ließ sich von ihrem großen Bruder Stück für Stück und Ast für Ast den Baum hinunterführen. Endlich war der unterste starke Ast erreicht, Elke lehnte sich gegen den Stamm, während Frank auf den Boden sprang. Er breitete seine Arme aus und forderte Elke auf, ebenfalls zu springen.
Mit ihrer letzten Kraft ließ sie sich fallen und landete in den Armen des Bruders. Frank schaute auf seine Uhr, das Fußballspiel war schon angefangen. Egal, er konnte der immer noch schluchzenden Elke nicht wirklich böse sein, schließlich war sie seine Schwester. Und wie sagte neulich der Vater zu ihnen? Blut ist dicker als Wasser, was war schon das Unverständnis der Freunde und der Ärger über das verpasste Spiel gegen eine glücklich gerettete kleine Schwester?
Elke war mit ihren sechs Jahren schon ein wahrer Wildfang, ihr Erkundungs-drang grenzenlos. Am liebsten kletterte sie. Das hatte ihren Eltern schon manch aufregende Stunden eingebracht. Diesmal hatte die alte Eiche es Elke angetan. Es dauerte nicht lange, bis sie die unteren Äste hinter sich gelassen hatte und immer höher in die Krone des stattlichen Baumes vordrang. Sie hielt kurz inne und blickte hinab. Schwindel war für sie ein Fremdwort, trotz-dem wollte sie es für heute gut sein lassen.
Ein klägliches Jammern drang aus der Höhe herab, als ihre Freundin Susanne sie eine halbe Stunde später in dem kleinen Wäldchen neben Elkes Elternhaus suchte. Sie hatte den roten Pulli durch das grüne Blattwerk durchscheinen sehen und war erschrocken, wie weit sich Elke hochgewagt hatte. Jetzt kam sie offensichtlich nicht mehr zurück. Sie rief ihrer Freundin zu, ruhig zu bleiben, sie würde Hilfe holen.
Elkes Eltern waren nicht zuhause, ihr Bruder Frank dafür gerade dabei mit seinem Fahrrad davonzufahren. Susanne lief keuchend auf ihn zu und berichtete ihm von Elkes Missgeschick. Frank sah keinen Grund seiner nervenden Schwester aus der Patsche zu helfen. Heute war das wichtige Fußballspiel gegen die Parallelklasse, da durfte er als bester Stürmer seiner Mannschaft die Klassenkameraden nicht im Stich lassen. Und schon klingelte sein Handy, Kazim wollte wissen, wo er denn bliebe.
Aber Susanne ließ nicht locker, mittlerweile standen ihr aus Sorge um die Freundin schon die Tränen in den Augen. Frank ließ sich erweichen, wenigstens bis zum Baum mitzukommen, vielleicht konnte er Elke ja einen Rat geben und dann schnell weiterfahren. Dann erschrak aber auch er nicht wenig, als er die Schwester so hoch oben in der Krone der knorrigen Eiche entdeckte. Gar nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sie aus der Höhe abstürzte.
Frank war fünf Jahre älter als seine Schwester, unter seinem Gewicht gaben die kleineren Zweige, die Elke vorher zum Hochklettern genutzt haben musste, nach. Es fiel ihm sehr schwer Stück für Stück den Baum zu erklimmen und sich seiner Schwester zu nähern. Endlich konnte er ihre zittrige Hand fassen und Elke langsam den Baum hinunterführen. Er war erleichtert, als sie beide wieder auf festem Boden standen. Sein Fußballspiel hatte längst ohne ihn angefangen, aber das zählte in diesem Augenblick nicht mehr. Er nahm seine weinende Schwester in den Arm und tröstete sie. Es war ja gottseidank nichts passiert. Und was hatte ihr Vater noch vor Kurzem gesagt? Blut ist dicker als Wasser, was war schon das Unverständnis der Freunde über sein Fehlen beim entscheidenden Spiel gegen eine glücklich gerettete kleine Schwester?
Tut mir leid, die hier zunächst veröffentlichten Texte sind jetzt nur noch im Persen-Verlag erhältlich: